Per Landin: Political Correctness

Dr. Per Landin ist Mitarbeiter bei Dagens Nyheter in Stockholm, der größten schwedischen Abonnementszeitung. In zahlreichen längeren Auslandsaufenthalten sammelte er Eindrücke und Materialien für seine Bücher über die europäische und insbesondere deutsch/deutsche Literatur- und Geisteswelt. Das NORDEUROPAforum wird künftig regelmäßig seinen (kontroversen) Kommentaren zu Zeitproblemen Platz bieten.

In: NORDEUROPAforum 5(1995)1, S. 3

Vor kurzem fragte mich ein deutscher Freund in echter Anteilnahme, wie ich mich nun in Stockholm fühlte, nach einigen Jahren des mehr oder weniger freiwilligen Aufenthalts im Ausland. Hier ist mein Versuch einer Antwort.

Blickt man auf die äußeren Annehmlichkeiten, betrachtet das intellektuelle Klima, sucht innovative Kunst und Literatur oder spannende intellektuelle Debatten, so stellt die schwedische Hauptstadt sicherlich keinen sonderlich attraktiven Ort dar. Kunst und Literatur haben ihren Ort, aber jetzt, wenn der dicke Schnee fällt und die Dunkelheit sich schon früh über die Stadt legt, da fühlt man sich manchmal, als habe man sich in das Nirgendwo dieses Landes verirrt. Das Gefühl des Unwirklichen macht sich breit. Während die Zeitungen das Leben an Kleinigkeiten festmachen und im Fernsehen die Ziehung der Lottozahlen wiederholt wird, spielt sich draußen in der Welt ganz anderes ab. Menschen werden auf offener Straße erschossen, eine Fähre versinkt im Meer ...

Der letzte Herbst war einer der düstersten seit langem, aber auf den Kulturseiten der Zeitungen schreibt man am liebsten über den Rotstrumpf Maria-Pia Boethius, die sich über fehlende Aufmerksamkeit beklagt (nur zwei Seiten in Dagens Nyheter!), über Taslima Nasrin, die sich falsch wahrgenommen fühlt oder über den IKEA-Chef Ingvar Kamprad, der sich über die seiner Meinung nach zu große Aufmerksamkeit erregt, die seine faschistischen Jugendsünden erhalten haben. Das ist in etwa das Niveau dieser Debatten. Ein Kritiker warf vor kurzem einem anderen meiner Kollegen vor, "eurozentristisch" und "rassistisch" zu sein. Schließlich hatte jener in einer Rezension eines kreolischen Schriftstelllers einen "falschen" Standpunkt eingenommen.

In der schwedischen Presse ist es seit langem ein beherrschender Zug, ein Arsenal mit anerkannten Meinungen und Ansichten vorrätig zu haben. Als ich aus Berlin zurück kam, sprachen alle hier im Lande mit Eifer von "political correctness" und "Eurozentrismus". Meine Kollegen haben über Jahre zu verstehen gegeben, daß es im heutigen Schweden nicht akzeptiert werden kann, über Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen, Frauen und Männern zu sprechen. Es ist nicht einmal erlaubt zu erwähnen - wie ich es einmal tat - daß Abtreibung eine schmerzhafte Erfahrung sein kann. Es ist nicht ratsam, am Sinn von Kindertagesstätten zu zweifeln oder über die Verschwendung von Entwicklungshilfegeldern zu reden. Nicht weil man diese Diskussionsbeiträge für falsch halten würde, sondern weil man solche Dinge, selbst wenn deren Wahrheitsgehalt zum Himmel stinkt, nicht diskutieren darf, sie liegen tabuisiert auf der anderen Seite unseres Grenzsteins. Hier spielen Links oder Rechts keine Rolle, und es auch kaum relevant, ob man angestellter Kulturredakteur der größten Morgenzeitung ist. Falls ich in einer Rezension auch nur andeuten sollte, daß Frauen Kinder besser zur Welt bringen können als Männer oder aber, daß man zum Kinderkriegen Männer benötigt - tja, dann würde ich mit Sicherheit zum Rapport bei meinem Chef gerufen werden.

In Schweden findet immer nur eine Meinung zur Zeit Platz, heißt ein schwedisches Sprichwort. Weil es so ist und weil Stockholm eine Stadt mit geringem intellektuellem Austausch ist, pflege ich zur Zeit hauptsächlich Umgang mit meinem Computer, dem Telefon und den Zeitungen, die mich durch den Briefschlitz aus dem Ausland erreichen. Der große Vorteil im Hiersein auf Zeit ist, daß man sich nach dem Frühjahrserwachen in München oder den Sommernächten auf dem Kurfürstendamm sehnen kann. Außerdem gibt es hier in Stockholm eine größere Auswahl frischen Fisches. Das ist nicht unwichtig.

(übersetzt aus dem Schwedischen von Reinhold Wulff)