Autor: © Reinhold Wulff, Berlin

Der Norden Europas versucht nicht erst seit der Diskussion um den EG-Beitritt einiger nordeuropäischer Länder sich einer gemeinsamen Identität zu vergewissern, aber seither wird die Auseinandersetzung über und die Verständigung auf ein gemeinsames kulturelles und politisches Erbe immer ernster genommen. Zwei Neuerscheinungen belegen diesen Prozeß.


The Source of Liberty. The Nordic contribution to Europe. An anthology edited by Svenolof Karlsson. The Nordic Council: Stockholm 1992. 217 S. mit zahlr. Farbabb. ca. DM 90,00

Weltgeltung und Regionalität. Nordeuropa um 1900. Peter Lang: Frankfurt/M. 1992. 313 S. mit zahlr. sw-Abb., DM 89,00.


Beeindruckendes Zeugnis nordischer Selbstvergewisserung ist der opulente Sammelband "The Source of Liberty". Titel und Untertitel dieses Bandes sind programmatisch: Es soll gezeigt werden, was die nördliche Peripherie Europas zur Entwicklung des Südens beigetragen hat. Der Nordische Rat in Stockholm versucht in einer Sammlung hochkarätiger Beiträge die Mittel- und Südeuropäer auf die geschichtliche Bedeutung Nordeuropas hinzuweisen. Dabei wechseln sich in diesem Buch streng wissenschaftlich organisierte, profunde erarbeitete Beiträge mit leichten Essays ab. In letzteren wird auf fünf bis zehn Seiten die emotionale, historische, aber auch aktuelle Bedeutung der z.B. polnisch-, russisch- oder belgisch-nordischen Beziehung feuilletonistisch abgehandelt. Eine willkommene Abwechslung zwischen den sachlicher formulierten, datenreichen anderen Aufsätzen.

Für die Fachaufsätze zeichnen international renommierte Wisenschaftlerinnen und Wisenschaftler verantwortlich. Im ersten Beitrag berichten David M. Wilson (England) und Else Roesdahl (Dänemark) über das gewachsene Interesse an den Wikingern und entlarven dabei einige Mythen, die durchaus zum internationalen Erfolg der Wikingerausstellungen der letzten Jahre (zur Ausstellung in Paris und Berlin vgl. NORDEUROPAforum 2/92 und 4/92) beigetragen haben. Die Wikingerüberfälle auf Kloster und Städte unterschieden sich nicht von anderen Raubzügen im frühen Mittelalter, sie wurden aber als besonders brutal überliefert, weil sie als Heiden christlichen Besitz überfielen. In diesem spannenden Aufsatz wird nicht nur mit Vorurteilen aufgeräumt, sondern auch historisch nachvollzogen, wie diese entstanden und tradiert wurden. Und auch, wie diese Vorurteile zur Identitätsstiftung im Norden beitrugen und insbesondere das Bild des Nordens im übrigen Europa prägten.

Jean-François Battail (Frankreich) weist auf die naturwissenschaftlichen Erfolge des Nordens hin, die vor allem im 16. und 18. Jahrhundert die wissenschaftliche Entwicklung in der Welt entscheidend prägten. Tycho Brahe (1546 - 1601), Anders Celsius (1704 - 44), Carl von Linné (1707 - 78) oder Hans Christian Ørsted (1777 - 1851) sind heute noch in ihren Fachdisziplinen unvergessene Innovatoren und zu ihrer Zeit bereits in ganz Europa wahrgenommen worden. Der Autor weist in diesem Artikel darauf hin, daß die periphere Lage im Norden für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse oft hinderlich war. Manche Leistung wurde auf dem Kontinent nicht ihrem Werte entsprechend gewürdigt.

Noch deutlicher macht Lars Olof Larsson (schwedischer Kunsthistoriker an der Universität in Kiel) dieses Problem auf dem Gebiet der schönen Künste. Nordeuropäische Maler, Bildhauer oder Architekten wurden über ihren skandinavischen Wirkungskreis hinaus nur selten bekannt - es sei denn, sie studierten und wirkten längere Zeit in den ausländischen Kunsthochburgen Frankreichs oder Italiens. Für die eigenständige Entfaltung "nordischer" Kunst war zudem hinderlich, daß oft französische oder holländische Künstler an den skandinavischen Höfen tätig waren. Aber in diesem Zusammenhang weist Larsson zu Recht auf die europäische Kunstszene als ein einheitliches Gebilde hin, in dem ein steter Austausch zwischen Peripherie und Zentrum stattfand. Seine Feststellung kann fast als Motto über allen Artikel stehen: "... we can obtain a more historically accurate picture ... by seeing the Nordic nations both as an integral part of a European network of economic, poltical and cultural communications with many centres and peripheries." (S. 116).

Kenneth Olwig (Dänemark/USA) untersucht in seinem Beitrag das Wechselverhältnis zwischen "nordischer" Natur mit seinen z.T. weiten, grenzenlosen Landschaften, und dem Konzept einer "nordischen" Nation und "nordischer" Freiheit. Er diskutiert ausführlich Konzepte nordischer Identität, nordischen nationalen Selbstbewußtseins und kommt zum selbstbewußten und optimistischen Ergebnis: "The North is ... an inextricable part of the European identity, and it will remain so whether or not it becomes part of the new quasi-state, the European Community. It is the nature of the Nordic nations to be geographically on the margin, but spiritually at the core, of the European identity. The nature of Europe is in the North." (S. 182)

Klaus von Beyme (Deutschland) schließlich untersucht das "nordische Modell" in seinen gewachsenen politischen und sozialen Verhältnissen. Er zeigt die Entwicklung und Funktionsweise der nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten auf und weist auf die besonderen Arbeitsmarktbeziehungen hin, einem wesentlichen Grundstock des schwedischen "Volksheimmodells".

Dieser Sammelband beeindruckt neben derpräsentierten Materialfülle durch die ausgezeichneten, großformatigen Farbabbildungen zur nordeuropäischen Kunst, Geschichte und Mythologie. Nur wenig ist negativ anzumerken. So ermüden die Aufzählungen und Kurzbiographien von nordischen Persönlichkeiten in den Aufsätzen von Battail und Larsson, vielleicht hätte man hier einige Informationen aus dem Text entfernen und an anderer Stelle plazieren können, wie schon bei einigen Bildunterschriften praktiziert. Der übergroße Pathos, das schon im Titel des Bandes angedeutet wird, wirkt allerdings in einigen der Aufsätze und Essays manchmal ein bißchen überzogen und zu nordisch-stolz undwenig hinterfragt. Bedauerlich ist außerdem das Fehlen eines Indexes, der das Auffinden der vielen erwähnten Personen erleichtert hätte.

Der zweite zu besprechende Sammelband, der ähnlich wie der bereits besprochene nordisch-europäische Wechselbeziehungen aufzeichnen will, weist demgegenüber grobe Mängel auf und enttäuscht formal und inhaltlich. Der Band "Weltgeltung und Regionalität" faßt achtzehn Vorträge des vierten Colloquiums des "Zentrums für Nordische Studien" an der Universität Kiel zusammen. Die Tagung fand 1989 statt, der Sammelband erschien 1992. Es sollte also genügend Zeit für die Herausgeber gegeben haben, um die Beiträge zu bearbeiten und vielleicht zu redigieren. Das wurde aber leider versäumt, so daß durch die unzulängliche Form dieses Bandes einige fundierte Aufsätze wenig Beachtung finden werden. Bevor ich zu diesen positiven Aspekten komme, eine Auswahl von Mängeln:

Der Literatur- bzw. Anmerkungsapparat ist sehr uneinheitlich. Teilweise verzichten die Autorinnen und Autoren ganz auf Literaturangaben und Anmerkungen, selbst dort, wo z.B. fremde Tabellen im Text aufgeführt werden (S. 9f), oder wo wörtlich zitiert wird (S. 26 passim), bei anderen finden sich Anmerkungen als Fußnoten, aber keine zusammenfassende Literaturliste, anderswo gibt es pauschale Literaturhinweise (S. 53, 267), leider nur selten ausführliche Anmerkungen und befriedigende Literaturangaben. Eine Zusammenfassung aller Titel am Ende des Bandes wäre eine verdienstvolle Arbeit der Herausgeber gewesen.

Noch erstaunlicher sind Mängel, die darauf hindeuten, daß dieses Buch weder lektoriert, noch korrekturgelesen wurde. So beschäftigt sich Jan Ling in einem gründlichen Artikel mit Hugo Alfvén (der Titel seines Aufsatzes wird übrigens im Inhaltsverzeichnis falsch wiedergegeben). Dieser schwedische Komponist wird auch in anderen Beiträgen erwähnt, dort wird er aber konsequent falsch geschrieben, nämlich Alvén (S. 7, 8, 21, 271, 279). Ähnlich ergeht es dem Skagenmaler Peder Severin Krøyer, der im Mittelpunkt von Annegret Heitmanns knappen, aber hervorragenden Aufsatz zu Kjell Gredes Film "Hip Hip Hurra" steht. Wird er dort noch richtig geschrieben, mutiert er im Protokoll der Abschlußdiskussion zu "Kroyer" (S. 274). Schlimmer noch ergeht es Joseph Beuys, der sich hier "Beus" schreibt. Es wundert da nicht, daß auch so prominente skandinavische Persönlichkeiten wie Bjørnson, Munch, Sibelius, Bang, Heidenstam, Larsson oder Almqvist falsch und teilweise unterschiedlich buchstabiert werden (S. 5, 7, 21, 97, 98, 163, 272, 280 und passim).

Neben unterschiedlichen Schreibweisen fallen auch widersprüchliche inhaltliche Aussagen auf. So verlegt Hain Rebas die Gründung der sozialdemokratischen Partei in Dänemark auf 1881 (S. 19), Anker Gemzøe macht sie - korrekter Weise - zehn Jahre älter (S. 124). Während Rebas bei der dänischen Aussperrung von 1899 (hier "Lockout" genannt, S. 13) 34.000 ausgesperrte Arbeiter zählt, sind es bei Gemzøe mehr als 40.000 direkt und weitere 80.000 indirekt betroffene (S. 124). Während wieder Rebas vage behauptet: "Mehr als eine halbe Million Schweden gehörten den drei etablierten Volksbewegungen an, dazu vielleicht noch 1/2 Million Kinder und Jugendliche." (S. 17), zählt Sven Lundkvist genauer: "Ca. 830.000 Erwachsene waren Mitglieder in diesen. Dazu kamen Jugendliche und Kinder in der übrigen Arbeit. (?)" (S. 263).

Über diese formalen Mängel vergißt man fast den Inhalt der weite Themenbereiche abdeckenden Beiträge. Die drei Aufsätze zur Musikwissenschaft von Schwab, Krummacher und Ling überzeugen in ihrer Präsentation, die volkskundlichen sind sehr disparat und z.T. an wenig verallgemeinerbaren Detailproblemen orientiert. Enttäuschend sind alle drei historischen Artikel, die altbekanntes wiederholen, teilweise auf Proseminarniveau. Wirklich überzeugen können neben den musikwissenschaftlichen nur noch einige der literatur- bzw. filmkritischen Beiträge. Dabei sind in erster Linie Annegret Heitmanns schon genannter Aufsatz zu erwähnen, in dem sie die komplexe Umsetzung des künstlerischen Milieus im Dänemark der Jahrhundertwende in das Medium des Films analysiert. Vergleichbar und geradezu spannend zu lesen ist Bernhard Glienkes Untersuchung von Pelle der Eroberer als Roman und als Film. Er geht hier der unterschiedlichen Darstellung des Lebens auf Bornholm nach, die bei Andersen Nexø aus sozialistischer Perspektive erfolgt, beim Regisseur Bille August hingegen bürgerlich sublimiert wird. Während es so Andersen Nexø gelingt, den ersten gründlichen materialistischen Bildungsroman in Handlung umzusetzen (S. 136f), macht August aus dem proletarischen Wanderungsroman einen bürgerlichen Auswanderungsfilm (S. 143). Ergänzt wird dieser Beitrag durch Anker Gemzøe gründlicher Analyse der Werke von Andersen Nexø, vor allem der Pelle Tetralogie und deren Einordnung in die dänische Welt der Jahrhundertwende.

Abschließend bleibt als Resumee, daß die Herausgeber hier ihre Aufgaben sträflich vernachlässigt haben und damit den guten Beiträgen in diesem Band einen schlechten Dienst erwiesen haben.